Foto-Reportage aus dem Jahr 1993
Sie gehört einer vom Aussterben bedrohten Gattung an: Die urbane Wohnstraße mit Dorfcharakter, in der sich nicht alle, aber viele kennen, die man nicht unbedingt verlassen muss, wenn man nicht will, weil man innerhalb ihrer Grenzen alles findet, was man zum Leben braucht und was Lebensqualität ausmacht: Brot und Rosen, Aspirin und Duschgel, Zeitungen und Zigaretten, Schrauben und Dübel, Wein und Cappuccino.
In Rostberlin und Restberlin (wie der Comic-Zeichner Seyfried sie nannte), vereinigt zur Boom-Town und in rasendem Tempo der genormten Unwirtlichkeit entgegenwuchernd, die in anderen Großstädten längst die Regel ist, existieren noch einige dieser sozialen Ökotope – die Leonhardtstraße gehört dazu.
Sie ist eine vitale Neunundneunzigjährige. 1894, als das neue Amtsgericht Charlottenburg errichtet wurde, begann man mit dem Bau der Leonhardtstraße und der umliegenden Straßenzüge. 1897, nach der Fertigstellung des Gerichtsgebäudes, zogen die ersten Beamten in die Leonhardtstraße ein, die zwischen Amtsgerichtsplatz und dem Stuttgarter Platz verläuft. Die Nähe des Lietzensees und der Parkanlagen, die den See umgeben, machte den Straßenkomplex zu einem der begehrtesten Wohnviertel Berlins.
Daran änderte sich auch nicht viel, als der Stuttgarter Platz, kurz „Stutti“, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Treffpunkt der Schwarzmarkthändler und zum Konzentrationspunkt der Prostitution wurde. Während Bordelle und Sexshops wie Pilze aus dem Boden schossen, während der Stutti zum Synonym für Unterwelt und Nepp wurde, döste an seinem westlichen Ende die Leonhardtsraße weiter in ihrem bürgerlichen Idyll dahin.
Ohne Folgen blieb die unmittelbare Nachbarschaft des Rotlichtbezirks jedoch nicht: Reparaturen wurden aufgeschoben, die Bausubstanz verfiel. Erst nach den Hausbesetzungen der frühen achtziger Jahre und der darauffolgenden öffentlichen Diskussion über Wohnungsnot und Wohnproblematik wurde auch in der Leonhardtstraße ein Haus nach dem anderen saniert und restauriert.
Der Stuck, in den fünfziger Jahren mit Senatsförderung abgeschlagen, wurde jetzt mit Senatsförderung wieder aufgepappt, die Straßen, die man autogerecht umgemodelt hatte, wurden jetzt wieder menschengerecht zurückgemodelt. An der Einmündung der Leonhardtstraße in den Stutti, einem öden und hässlichen Ort, an dem eine Tankstelle stand, verengte man die Fahrbahnen, legte Begrünungszonen an und baute einen großen Kinderspielplatz. Er ist so gut besucht, dass man die panischen Befürchtungen über das Aussterben der Deutschen wirklich nur für ein Ammenmärchen halten kann. Die Lebensqualität stieg – aber Lebensqualität gibt es nicht umsonst. Die Mieten steigen, sozial schwache, vor allem alte Mieter werden verdrängt, kleine Gewerbetreibende müssen aufgeben, in ihren Läden siedeln sich teure Boutiquen an. Noch hält es sich in Grenzen. Noch ist Vielfalt da, die ein soziales Ökotop von einer kommerziellen Monokultur unterscheidet.
Frau Vogt, die ihr Blumengeschäft in der Leonhardtstraße seit 30 Jahren mit Erfolg betreibt und selber ein paar Häuser weiter wohnt, ist nicht unglücklich über die Entwicklung: „Jetzt wohnen doch viel mehr junge Leute hier als vorher, das bringt Leben ‘rein.“ Frau Vogt, 63 Jahre alt, ist selbst vital und jung geblieben. Seit 23 Jahren lebt sie mit dem Vater ihrer 19-jährigen Tochter in „wilder Ehe“, wie sie sich ausdrückt. „Bei der vielen Arbeit im Laden hatte ich einfach nicht die Zeit, zu heiraten. Oder das Standesamt müsste um Mitternacht geöffnet haben…“ sagt Frau Vogt mit einem Augenzwinkern.
Ihr Laden ist weit über die Grenzen der Leonhardtstraße hinaus bekannt. Aus ganz Charlottenburg und aus anderen Bezirken kommen die Leute zu ihr, vielleicht auch, weil man hier noch sagen kann: „Ich möchte einen Blumenstrauß für 20 Mark, für meine Schwiegermutter“, und mit sicherem Instinkt stellt Frau Vogt einen üppigen Strauß mit den passenden Blumen zusammen. Seit 30 Jahren ist Frau Vogts Tagesablauf immer derselbe: Nachts um halb drei steht sie auf, fährt zum Blumengroßmarkt und kauft für den Laden ein. Um sieben Uhr öffnet sie das Geschäft und verlässt es abends selten vor halb acht, denn nach Ladenschluss muss sie noch aufräumen und bestellte Sträuße oder Gebinde für den nächsten Tag vorbereiten. Spätestens um neun Uhr abends geht sie zu Bett, denn morgens um halb drei klingelt wieder der Wecker… Für Freizeit bleibt wenig Raum und Urlaub hat Frau Vogt schon seit 20 Jahren nicht mehr gemacht. „Wenn ich jetzt nochmal wegfahre, mag ich bestimmt nicht mehr wiederkommen“ sagt sie, aber das klingt durchaus nicht resigniert. Trotz (oder vielleicht wegen) der vielen Arbeit hat Frau Vogt sich eine erstaunliche Frische bewahrt, und wenn sie von sich behauptet „früher war ich ein flotter Feger“, hat man nicht den mindesten Zweifel daran.
Auch wer einen Zeitungsladen führt, muss früh aufstehen. „Daran werden wir uns nie gewöhnen“, sagen Ulla Andresen und Barbara Tetzner wie aus einem Mund. Für sie beginnt der Tag um halb fünf Uhr früh, aber sie machen sich das Leben leichter, indem sie den Laden und die Arbeit teilen. Eine Woche übernimmt Barbara die Früh- und Ulla die Spätschicht, in der Woche darauf ist es umgekehrt. Der Wunsch, sich ihre Arbeitszeit freier einteilen zu können, war für Ulla Andresen auch der Grund, ihre Stellung als Leiterin der Stoffabteilung in Berlins renommiertestem Kaufhaus, dem KaDeWe, aufzugeben: „Den ganzen Tag nicht die Sonne sehen, immer künstliches Licht und klimatisierte Luft – das habe ich nicht mehr ausgehalten. Ich brauchte mehr Zeit für mich selbst.“ Also suchte sie nach Alternativen: „Eine Boutique oder ähnliches kam für mich nicht in Frage. Da muss man den Leuten doch was aufschwatzen, und das kann ich nicht und will ich auch nicht. Es sollte etwas sein, was die Leute sowieso brauchen, wie Zeitungen und Zigaretten zum Beispiel.“
Ullas Nichte, Barbara Tetzner, war als Geschäftsführerin in Berlins größtem Bioladen in einer ähnlichen Situation: „In der Arbeitsweise kam das Biologische dann doch zu kurz – es war alles ziemlich stressig und aufreibend.“ Die beiden Frauen taten sich zusammen und haben nun seit 10 Jahren den Zeitungsladen in der Leonhardtstraße. „Wir haben lange gesucht“, sagt Ulla, „hier hat uns die Gegend sofort gefallen. Sie ist lebendig, und wir konnten uns gleich vorstellen, dass wir hier Spaß an der Arbeit haben.“ Ulla und Barbara wollten auch keinen Zeitungsladen im üblichen Stil aufmachen. Vielfalt sollte da sein, in jedem Fall auch ausländische Zeitungen. „Und wenn wir eine bestimmte Zeitschrift nicht da haben, können wir sie auf Wunsch besorgen.“ Im Laden haben sie einige Stehtische aufgebaut, an denen man bei einer Tasse Kaffee in aller Ruhe in den Zeitschriften blättern kann. „Auf den Verkauf von ‚Bild‘ und ‚Super‘ können wir leider nicht verzichten“, sagt Ulla, „aber Sex-Postillen haben wir kaum im Angebot. ‚Playboy‘ und ‚Penthouse‘ führen wir, stellen sie aber etwas versteckt hin, so dass die Männer danach fragen müssen. Manche gucken dann nur verunsichert herum, sagen keinen Ton und gehen wieder raus. Den kleinen Luxus leisten wir uns!“ Ulla lächelt verschmitzt.
Nicht nur für Ulla und Barbara hatte der Kiez seine Anziehungskraft. Dieter Glaap, früher als Fahrer im Außendienst der Post beschäftigt, war von der Atmosphäre der Straße so begeistert, dass für ihn klar war: „Sobald der Zustellbereich Leonhardtstraße neu ausgeschrieben wird, will ich hier Postbote sein.“ Der alte Postbote, ein stiller, korrekter, konservativer Mann, ging in Pension, und Dieter, damals noch langhaarig, lebhaft und immer zu einem Schwätzchen aufgelegt, trat an seine Stelle. Die Leute mussten sich erst an ihn gewöhnen, aber das liegt jetzt 14 Jahre zurück, und inzwischen ist Dieter zu einer Institution geworden. Er kennt alle und alle kennen ihn. Manche dürfen ihn duzen, wenige Auserwählte dürfen ihn Trini nennen, in Anlehnung an Trini Lopez, den spanischen Sänger der 60er Jahre.
Angeblich singt Dieter genauso schön und so butterweich … Dieter nimmt sich Zeit, wenn er seine Runde macht und plaudert mit diesem und jenem. Er ist ein Mensch, der offensichtlich Spaß an seiner Arbeit hat. Außerdem ist er erfrischend unbürokratisch: ist ein Brief unterfrankiert, passt die Sendung nicht in den Briefkasten, ist niemand zu Hause, um das Päckchen anzunehmen, muss man nicht am nächsten Tag zum zwei Kilometer entfernten Postamt pilgern, sondern findet im Briefkasten eine Nachricht von Dieter: Päckchen beim Bäcker, Grüße. Post für Sie im Tabakladen, Grüße. „Ich brauche das Zeug nicht zurückschleppen, und der Kunde muss nicht zum Postamt und verliert keine Zeit“, erklärt Dieter. Was man eher mit der italienischen Provinz assoziieren würde, gibt es also auch im tiefsten Preußen. Die Bewohner und Bewohnerinnen des sozialen Ökotops Leonhardtstraße wissen diese unkonventionelle Haltung zu schätzen. Dieter genießt seine Popularität, zumindest während der Arbeitszeit: „Ich fühle mich hier richtig wohl. Abends würde ich mich auch gern mal in eine der vielen Kneipen setzen, aber richtig zur Ruhe kommen würde ich hier doch nicht, bei den vielen Leuten. die mich kennen.“
An der Ecke Leonhardtstraße/Stuttgarter Platz drängen sich im Umkreis von etwa 50 Metern sechs Cafés und ein Restaurant, Tür an Tür, Tisch an Tisch. Beim ersten milden Lufthauch werden Tische und Stühle auf die Straße gestellt und die Gäste kommen in Scharen. Der mediterrane Eindruck ist perfekt. Schon vormittags sind die Cafés voll besetzt und man fragt sich, warum die Leute so viel Zeit haben, und ob es wohl diese sind, die das Bruttosozialprodukt erwirtschaften. Das letzte Szene-Café hat sich übrigens auf dem ehemaligen Terrain einer Drogerie und einer kleinen, praktischen Imbissbude etabliert.
Alois Poglitsch, genannt Pogi, braucht zumindest in den nächsten Jahren noch nicht zu befürchten, dass aus dem Holzladen, den er seit 13 Jahren führt, eine Kneipe wird. „Eigentlich wollte der Hauswirt richtig zulegen, aber ich konnte ihn nochmal überzeugen, dass er besser damit fährt, wenn er vertraute Mieter hat, auf die er sich verlassen kann.“ In Pogis Laden, wo alle Gegenstände mit einer feinen Schicht Holzstaub bedeckt sind, kann man Schrauben, Nägel und Dübel noch einzeln kaufen und muss nicht auf Hunderter-Packungen zurückgreifen, wenn man nur zwei Bretter zusammennageln will. Pogi sägt auch Holz zu und baut auf Bestellung Regale und alles andere, was mit Holz zu tun – hat in jeder Größe.
Vor 22 Jahren übersiedelte Pogi von Graz nach Berlin, aber seinen Dialekt hat er nicht abgelegt. „Etwas von der Heimat muss man ja bewahren“, meint Pogi. Er wohnt nur einige Schritte von seinem Geschäft entfernt, in der Friedbergstraße. „Hier ist es wirklich wie in einem Dorf – jeder kennt jeden. Einen schöneren Platz für meinen Laden kann ich mir nicht vorstellen“. Pogis ständiger Begleiter Georgi, sein Hund, eine Mischung zwischen Cocker und Dackel, ist 12 Jahre alt, dick und ziemlich kurzatmig. Zwischen seinen langen Schlafpausen sitzt er auf der Schwelle der offenen Tür oder vertritt sich vor dem Laden gemächlich die Beine. Pogi krault ihn hinter dem Ohr: „Ein treuer Freund.“
Wenn man Frau Schwedas Tabakladen betritt, wähnt man sich um einige Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt. Das dunkle, stabile Eichenholz der Regale erinnert an die düstere Stabilität der 50er Jahre. „Als ich den Laden vor 22 Jahren übernahm, waren die schon drin“, erinnert sie sich, „ist doch optimal, warum sollte ich sie rausreißen und neu einbauen? Wäre doch Verschwendung gewesen!“ Das Einzige, womit die rüstige Frau Schweda verschwenderisch umgeht, sind ihre Witze, Reime und Bonmots, die sie täglich neu erfindet. „Eine Lord – kommt sofort!“, „Bei der Hitze wollen sie ein Feuerzeug? Das ist ja paradox! Wissen Sie, was noch paradox ist? Wenn Goethe durch die Bäume schillert“, „Erst nimmt’se Javaanse Mild, dann wird‘se wild!“ Es gibt Kunden, die nur in den Laden kommen, um zu hören, was Frau Schweda heute wieder „auf Lager“ hat. Die höhere Verkehrsdichte in den jetzt engeren Straßen geht Frau Schweda auf die Nerven: „Ständig parkt jemand in zweiter Reihe und andere kommen nicht raus. Dann geht die Huperei los. Früher war es besser!“
Rajwant Singh und Swee Hwa, die seit 1982 in der Leonhardstraße wohnen, sind aus anderen Gründen der Meinung, dass die Straße sich nicht zu ihrem Vorteil verändert hat: „Früher wohnten bei uns im Hinterhaus viel mehr Ausländer, das war eine richtige multikulturelle Gesellschaft, sehr lebendig. Heute sind fast alle weg …“ Swee Hwa ist viel in der Welt herumgekommen und hat mit Anfang 30 bereits viel Lebenserfahrung gesammelt. Sie wuchs in Singapur auf, wanderte Ende der siebziger Jahre aus, war Englischlehrerin in der Schweiz, in China und Tibet. Die nächste Station war Frankreich, und von dort siedelte sie nach Berlin über und begann ein Ethnologie-Studium. Jetzt arbeitet sie an einem Projekt für Immigrantinnen aus dem ost-asiatischen Raum. Sie hat einen zweijährigen Sohn.
Ihr Mann Rajwant Singh ist fertig ausgebildeter Veterinärmediziner. Er kam im Alter von 15 Jahren aus dem indischen Punjab, der Heimat der Sikhs, nach Deutschland. Nach Jahren der Distanzierung von seinen religiösen und kulturellen Ursprüngen bekennt er sich jetzt wieder zu seinem Sikhtum. Er ließ sich Haare und Bart wachsen und windet sich jeden Morgen das sieben Meter lange Tuch, aus dem der Turban der Sikhs besteht, um den Kopf. „Ursprünglich hatte das Tuch eine praktische Bedeutung: es diente als Schutz gegen Kopfhiebe, aber heute ist es einfach ein Bestandteil der Sikh-Tradition.“ Rajwant Singh arbeitet innerhalb der Liga für Menschenrechte gegen die politische Unterdrückung der Sikhs in seinem Heimatland. Seine Wohnung in der Leonhardtstraße ist die Keimzelle eines geplanten Sikh-Kulturzentrums.
Besorgt ist er über die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland: „Ich fühle mich inzwischen bedroht, obwohl ich hier aufgewachsen bin und keine Sprachschwierigkeiten habe. Natürlich geht es anderen, die nicht so gut Deutsch sprechen können, noch schlechter, weil sie sich im alltäglichen Rassismus zum Beispiel bei Behörden nicht wehren können. Andererseits schützen mich meine Deutsch-Kenntnisse nicht vor Neonazi-Knüppeln – da muss ich mich eher auf meinen Turban verlassen…“
Rajwant Singh findet es gut, dass er und seine Frau in die Foto-Reportage aufgenommen werden: „Sonst glaubt man noch, in der Leonhardstraße wohnen nur Yuppies, die sich den ganzen Tag in Cafés herumtreiben!“ Für den zweijährigen Tenzin ist die Wohnlage ideal: „Der nächste Spielplatz ist nicht weit.“
Für Dan van Husen, einen Kölner holländischer Abstammung, stand fest: „Ich wollte einen Lebensmittelladen mit italienischen Spezialitäten aufmachen und als Standort kam nur die Leonhardstraße in Frage – hier wo ich wohne.“ Vorher lebte er jahrelang in Italien und Spanien und arbeitete als Schauspieler. „Irgendwann hatte ich die Faxen dicke und da kam mir die Idee mit dem Laden. Die kam mir in Indien, da wurde mir klar, dass Lebensmittel verkaufen immer läuft! Ich habe mir den Laden eingerichtet wie ein Geschäft, in dem ich selbst gern einkaufen würde. Hier bin ich alles in einer Person: Bühnenbildner, Regisseur, Darsteller. Der Laden ist meine Bühne.“ Und auf dieser Bühne spielt er eine einzigartige Rolle: sich selbst. Vermutlich ist Dan der einzige Ladenbesitzer, der gelegentlich versucht, Kunden vom Kauf seiner Waren abzubringen: „ Was, den Sekt willst du kaufen? Lass das bloß, das Gesöff ist das reinste Säurebad!“ Oder ihnen ein anderes Mal Vorwürfe macht, wenn der Einkauf allzu karg ausfällt: „ Wie, nur ein Brot? Da kann ich den Laden ja gleich dichtmachen!“ Wer ihn nicht kennt, ist irritiert aber wer kennt ihn nicht in der Leonhardtstraße?
Einer der wenigen, die ihn nicht kennen ist Frau Waske. „Ich halte mich lieber an die gut-bürgerliche deutsche Küche. Was ich dazu brauche, kann ich alles in den anderen Läden hier kaufen.“ Frau Waske ist 76 Jahre alt und lebt seit ihrer Geburt in der Leonhardstraße – in derselben Wohnung. Sie kann sich noch an die Zeit erinnern, als an der Eingangstür zum Vorderhaus „Aufgang nur für Herrschaften“ stand, als unter dem Dach die Waschküche und als statt der Motorgeräusche nur das Klingeln der Straßenbahn zu hören war. Das Schild ist längst verschwunden, das Dach ist zum großzügigen und teuren Penthouse ausgebaut, und die Autofahrer finden kaum noch Parkplätze.
Wie viele Menschen ihre Generation, die durch die Not der Weltwirtschaftskrise der Kriegs und Nachkriegsjahre gegangen sind, hat sie Schwierigkeiten mit der heutigen Konsumwelt: „Letztens habe ich wieder im Supermarkt beobachtet, wie eine junge Frau eine Zehnerpackung Babynahrungs-Konserven gekauft hat. Wo es doch alles frisch zu kaufen gibt!“
Sie erinnert sich an die Zeit, als sie vier Wochen mit ihrer neugeborenen Tochter im Luftschutzkeller verbringen musste, als sie jeden Morgen um halb fünf für Milch anstand, oder als es einfach nichts gab. Das sind Erinnerungen, die sich nicht abschütteln lassen. Trotzdem ist Frau Waske nicht verbittert oder resigniert, sondern sehr aktiv und unternehmungslustig. Sie schätzt es, dass die Leonhardtstraße im Lauf der Zeit immer lebendiger geworden ist und betrachtet auch die Cafés als eine Bereicherung: „Hier ist immer was los. So habe ich nachts keine Angst, die Straße langzugehen.“
Mit Besorgnis beobachtet sie, dass die kleinen Einzelhändler allerorts durch die explosionsartig steigenden Gewerbemieten verdrängt werden: „Wenn hier nur noch teure Läden existieren können, verändert sich die Straße bestimmt nicht zum Guten!“
Aber noch kommt man vom Stutti, wo sich jetzt neben den letzten Sex-Läden die Import-Export-Läden mit Billigware für den Osten etabliert haben, wo sich Trauben um die Hütchenspieler bilden – „Wo ist die Ball, wo ist die Ball?“-, biegt in die Leonhardtstraße ein und wähnt sich in eine ganz andere, heile Welt versetzt. Das soziale Ökotop ist noch intakt.
Wie lange noch?